Urban Games: Street Art Bingo!
Bei strahlendem Sonnenschein treffen wir uns zum „Urban Gaming“ im Dortmunder Unionsviertel im Gewerbehof. An mehreren Tischen sitzen Menschen die sich nicht kennen, denen aber die Neugierde aus den Augen blitzt. Männer und Frauen, Alte und Junge, Dortmunder und Hamburger – eine bunt gemischte Gruppe. Der Jüngste ist Oke, 24 Jahre und aus Siegen angreist, der Älteste ein Rentner aus Dortmund, der noch nicht ganz sicher ist, ob er bis zum Ende dabei sein wird – und dann doch bis zum Schluss begeistert mitmacht. Alle verbindet ein Ziel: Möglichst viele Kunstwerke auf der Straße zu finden. Daniel Parlow von den Urbanisten e.V. erklärt uns die Grundregeln des Street Art Bingos, das er selbst entwickelt hat. Er kommt aus der Urban Games Szene und ist Fachmann, wenn um darum geht, das städtische Umfeld neu zu entdecken, das uns zwar täglich umgibt, aber oft nicht mehr im Detail wahrgenommen wird. Schnell finden sich die Gruppen zusammen, die Tischnachbarn ergeben jeweils eine Crew. Wir sind im Jagdfieber – das Spiel kann beginnen.
Zwei Stunden haben wir Zeit, zu Fuß drei verschiedene Dortmunder Viertel zu erkunden und dabei möglichst viele Punkte für unser Bingo – eine durchgehende Bilderreihe auf der Spielkarte – zu finden. Wir nehmen unser dickes Kartenbündel mit den Aufgaben, die uns zu den Hot-Spots der Dortmunder Streetart Szene führen sollen und fasst möchte man ein lautes „Reclaim the Streets!“ (Holt euch die Straße zurück) ausrufen. Wir marschieren auf den Spuren des britischen Streetart Künstlers Banksy und der US-amerikanischen Ikone Shepard Fairey in Richtung Lange Straße und wollen wissen, was die Pott-Artisten mit Markern, Aufklebern, Schablonen, Spraydosen und Pinseln in der Tradition der Urban Art-Helden zustande gebracht haben.
Zur Orientierung haben wir eine Straßenkarte dabei, die unser Revier markiert Jan aus Hamburg und Oke aus Siegen reichen sie schnell an uns Ortskundige weiter. Auf den Spielkarten sind Street-Art Kunstwerke zu sehen, die wir suchen müssen, um einen Punkt zu ergattern. Für eine gefundene „Kachel“, ein an Hauswänden befestigtes bemaltes Holzbrettchen, ein entdecktes Graffiti oder einen handgemachten Aufklebe gibt es einen Punkt. Keine ganz leichte Aufgabe, denn oft sind die Bilder versteckt oder ziemlich klein und erst bei genauem Hinsehen zu erkennen. Auf der Aufgabenkarte steht: ‚Sehr angenehm verändern diese Paste-Up-Tierchen mit ihrem naiven Stil einer Kinderzeichnung die Umgebung und sorgen unweigerlich für gute Laune. Finde und fotografiere eines der Insekten!‘ „Kommt her!“ rufen Caro und Nadja gut gelaunt: „Hier ist es!“ Wir folgen den winkenden Mitspielerinnen und tatsächlich – zwei kleine süße Käfer krabbeln als bunte Papieraufkleber über einen trist-grauen Stromkasten
Bei dem nächsten gefunden Bingobild fängt unserer Gruppe zu diskutieren an. Die einen finden Tags, geschlungene Namens-Kürzel „scheusslich“, weil es nur „Schmiererei ist, das die Wände verunschönt“. Andere sind etwas gnädiger und gewinnen dem Fleiß der Kürzel-Writer ein bisschen Respekt ab. Nadja meint, der Wunsch im städtischen Raum möglichst präsent zu sein und das eigene Viertel als Revier zu markieren, sei gesellschaftlich betrachtet doch sehr spannend und eigentlich keine ästhetische Frage. So ähnlich steht es auch auf der Spielkarte, die ausführlich und in angenehmer Erklär-Bär-Sprache die verschiedenen Streetart-Formen beschreibt.
Ein Highlight auf unserer Bilderjagd ist das riesige Mural des andalusischen Künstlers Belin, der 2013 das etwa zehn Meter hohe Kindergesicht malte. „Super Bruno“ blickt zwischen Häuserwänden und Platanen auf und herunter – und zieht dabei eine Schnute. Wir machen schnell ein Foto und gehen weiter Richtung Westpark. Kurz ist Erleichterung in den Gesichtern zu sehen – man könnte doch im Erdmann-Biergarten ein kühles Weizen trinken. „Nein“, meint Heike, „wie haben keine Zeit, wir müssen weiter. Jede Minute, die wir zu spät im Ziel ankommen, kostet uns einen Punkt. Und Achtung, da drüben ist die andere Gruppe!“ Wenn die gegnerische Mannschaft und erwischt und es schafft, uns zu fotografieren, gibt es auch einen Punktabzug. Wir ducken uns schnell hinter einem Busch.
Dann schnell weiter und den Baum suchen, der angeblich statt Äpfeln Baby-Assessoires als Früchte trägt und einen Strickstrumpf anhat. Der Baum ist tatsächlich an seinem Stamm liebevoll im Ringelstrick bunt umgarnt, in Fachsprache heisst das Guerilla Knitting. Sein grünes Blätterkleid ist bunt gesprenkelt mit farbigen Schnullern. Heike macht schnell ein Foto als Beleg dafür, dass wir ihn tatsächlich gefunden haben und dann schnell zurück zum Ausgangspunkt. Ein bisschen erschöpft aber siegessicher laufen wir zehn Minuten später in der Zielgeraden im Unionsgewerbehof ein. Die eine Hälfte unserer Gruppe schmeisst sich auf die Gartenstühle, die anderen laufen zum Buffet, an dem uns Kaffee und leckerer Kuchen erwarten. Diese Kalorien haben wir uns verdient!
Eines ist am Ende der Schnitzeljagd sicher: Wir haben uns den Stadtteil rund um die Rheinische Straße und Westpark neu angeeignet und den öffentlichen Raum auf spielerische Weise erobert. Die Dortmunder*innen beschliessen ihren Besuch aus Norddeutschland beim nächstes Mal statt zur üblichen Sightseeing-Tour zum Dortmund-Bingo mitzunehmen. Michael aus Zürich nickt: Er ist besonders davon begeistert, mal ganz andere Ecken einer Stadt kennenzulernen, als er es sonst auf seinen Reisen gewohnt ist. „Toll war auch, wie stark unser Blick durch das Spiel geschärft wurde!“ Und die Dortmunder? Alina freut sich vor allem darüber, dass wir eine Aufgabe nicht lösen konnten: Der Pluspunkt für den Nazisticker entgeht uns. „Offenbar haben die Mitarbeitenden der Stadt Dortmund beim diesjährigen Frühjahrsputz gegen Nazipropaganda unseren Stadtteil erfolgreich von den Naziparolen im klebrigen Miniformat befreit.“ sagt sie lächelnd.
Die Vielfalt der Techniken, Formen, Themen, Materialien der Street Art sei erstaunlich für ihn gewesen, meint der 24 jährige Oke aus Siegen. Und auch wenn eine Stadtschnitzeljagd für ihn eher etwas Nostalgisches an sich hat, würde er das Urban Game gerne ein zweites Mal machen: „Es war cool und der Jäger- und Sammlerinstinkt wurde voll befriedigt!“ Wer wissen will, was sich hinter den Begriffen Bombing und Pouchoir verbirgt und nicht weiss, wie sich ein All City King seinen Fame erarbeitet oder einfach nur Dortmund ganz neu entdecken will, sollte sich das Bingo auf keinen Fall entgehen lassen. Er wird am Ende vermutlich feststellen, dass die Streetart-Künstler mit ihrer nichtkommerziellen Kunst auf anarchistisch-kreative Weise eine bessere Stadt für alle gestalten wollen und Dortmund dadurch erstaunlich bunt ist.
Bildnachweis: Ulrike Märkel