62. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen

62. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen; Foto: Ulrike Märkel

Die traditionsreichen Kurzfilmtage Oberhausen zeigen dieses Jahr ein Programm der Superlative: Mehr als 550 Filme aus 55 Ländern sind zu sehen. Vier Jurys wählten ein facettenreiches Programm aus. Über 1.200 akkreditierte Fachbesucher verbrachten das Wochenende an drei Spielorten in Oberhausen – trotz des strahlenden Sommerwetters waren die Kinosäle voll. Im internationalen und deutschen Wettbewerb waren zahlreiche innovative und experimentelle Formate zu sehen. Auf in die Zukunft oder nach uns die Sintflut?

Das Thema Veränderung und Fortschritt wurde in vielen Filmen, wie bei Novi Jusni Zagreb über die städtebaulichen Entwicklungen in Zagreb oder der türkischen Kurzfilm Cosmorama von Eren Aksu, kritisch beleuchtet. Die Grand Dame der Filmfestivals zeigte, dass sie noch lange nicht aufs Altenteil gehört. Auch die 62. Ausgabe der Kurzfilmtage Oberhausen wurde ihrem Ruf gerecht, ein wichtiger Szene-Treffpunkt und Fest der Film-Avantgarde zu sein.

Kaleidoskop 1: Internationaler Wettbewerb

489 Years (Hayoun Kwon)

Der südkoreanische Soldat Kim berichtet über seinen Dienst in der demilitarisierten Zone an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea. „Ich arbeite hier als Soldat und kann alle nordkoreanischen Bewegungen beobachten“. Nur 2 x 2 Meter trennen die beiden politischen Systeme. Ein Lichtkegel schwenkt über den Weg, Schritte auf dem Waldboden und das Schnaufen der Kontrollposten sind zu hören. Dann: Tore mit Stacheldrahtrollen öffnen sich. „Die Szene, die wir sahen war wundervoll“ – eine blaue Blume. Der Todesstreifen hat die Natur bewahrt. Ein verletzter Eber. Und dann – Explosionen an der Grenze entlang. Der Wald geht in Flammen auf.

Ein besseres Timing kann eine Filmvorführung kaum haben. In Pjöngjang tagte letzte Woche das erste Mal ein Kongress der Kommunistischen Partei. Diktator Kim Jong Un wird seine Führungsrolle voraussichtlich dadurch zementieren. In dem computersimulierten Film beschreibt Kwon durch die persönliche Darstellung des „Bewachers“ eindringlich die Situation an der 240 Meter langen Grenze, an der noch immer der kalte Krieg herrscht.

20. Juli 2015 (Deimantas Narkevicius)

Wie durch ein Gucki mit 3D Effekt verfolgt man in dem Wettbewerbsfilm „20. Juli 2015“einen Mann durch die Straßen von Vilnius (Litauen). Die Menschen wirken ungleich kleiner als die mächtigen Statuen – wie Püppchen bewegen sie sich um die Kolosse der sozialistischen Idealfiguren. Ein Mann bewegt sich durch die Szenerie und klatscht. Die Denkmäler der Helden des untergegangenen Kommunismus – Bauern und Arbeiter – werden abgebaut. „Der Bauer wird nicht zurückkehren“ meldet das Fernsehen. Eine Hand der Statue ragt aus dem Gerüstkasten, in dem die Statue abtransportiert wird. Umringt von Pressfotografen ist der Bauer ein letztes mal ein Star.

Eine gelungene Metapher auf den Untergang des Kommunismus in den Ostblockländern.

Was bedeutet es schwarz und britisch zu sein? Schmerzhaft ist die Auseinandersetzung von Somebody Nobody Productions mit dem Thema Herkunft. Die schwarz-weiß Aufnahmen der ankommenden Exilanten, die das Schiff verlassen, zeigen Hoffnung auf ein besseres Leben. Der Blick schweift durch eine Wohnung – wohnliche Idylle, ein bisschen spiessig. Ein altes Telefon auf einem Kästchen, eine Nachtischlampe gibt warmes Licht, ein Vorhang aus Holzperlen versperrt den Blick in den Flur. Schüsse fallen. Großaufnahme auf ein von Schmerz verzerrtes Gesicht. Tänzer bewegen sich wiegend wie Pappeln im Wind, einer nach dem anderen fällt zu Boden, wie die getöteten Schüler – von Schüssen getroffen. Die Collage aus Tanzszenen, historischen Aufnahmen und Nahaufnahmen stellt die Frage nach der eigenen Identität und die Bedrohung durch Rassismus. So nah möchte man der Verzweiflung nicht sein – doch entkommt man ihr nicht.

62. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen; Foto: Ulrike Märkel

Durch (Jelena Markovic)

Eine junge Frau kommt in ihre Wohnung und findet ihren Freund tot auf. „Doch kaum war ich eingetreten, musste ich Dich begraben.“ Es beginnt der Weg der Trauer. Warten auf den Bus, der melancholische Blick auf den Hamburger Hafen. Ein einsames Abendessen am Resopaltisch eines Schnellrestaurants. Hunde streunen auf der Straße. „The boy who felt out of the sky.“

Dicht folgt man der Frau in ihrer Trauer um den Freund. Schweigend geht sie durch die Straßen, besucht einen Club, spielt mit ihren Hunden. Sie wirkt getrieben, die Traurigkeit ist nach innen gekehrt. Ein berührender Film über das leise Abschied nehmen.

Kaleidoskop 2: Deutscher Wettbewerb

Synthesis (Christoph Girardet)

Christoph Girardet Film erzählt die Schöpfungsgeschichte in einer modernen Genesis neu. In the beginning … : Ein Tropfen steigt aus dem Wasser auf, Milch vermischt sich mit Wasser, Erdklümpchen werden gewogen und lösen sich dann in Wasser auf. Die Elemente Erde Wasser Feuer und Luft vermischen sich. Eine Flüssigkeit brodelt im Reagenzglas. Pflanzen werden zu nutzbaren Lebensmittelprodukten. Das Gift einer Schlange wird in einen Glaskolben gemolken. Ein seziertes Herz pulsiert.

In Giradets Film wird Leben in einer Petrischale extrahiert. Die Bildmontage aus Wissenschafts- und Industriefilmen beschreibt die Entfremdung der Menschen von der Schöpfung. Der Text des 1. Buch Moses wird vorgelesen. Die Laborexperimente lassen die Schöpfungsgeschichte aus dem christlichen Alten Testament und dem jüdischen Tanach wie ein naives Märchen erscheinen.

Arrangement of Skin (Karsten Krause)

Ein Affe wird ausgepackt. Es sieht aus, als ob er sich selbst umarmt. Tiefgefroren liegt er auf dem Seziertisch. Der Präparator streichelt über sein Fell. Den handwerklichen Prozess des Sezierens beschreibt der Film in allen Details. Ruhig zieht der Präparator das Fell ab, giesst Gips in eine Form, setzt den Kutter an einem Gelenk an. Ein Vogel schwimmt in einer konservierenden Flüssigkeit. Am Hals eines Tapirs baumelt ein handbeschriebenes Schild. Natur wird dokumentiert, archiviert und gezähmt.

Karsten Krause hat starke Bilder im Stuttgarter Naturkundemuseum gefunden. Ein Gorilla reisst sein Maul mit langen, scharfen Zähnen auf – seine Wildheit hat er in der Erstarrung eingebüsst. Tiere werden mühevoll präpariert und in nachgeahmten Landschaften inszeniert und damit dekonstruiert. Eine großartige Metapher über Archive und die Rekonstruktion von Erinnerung.

Coming out of age (Jan Soldat)

Ein älterer Mann liegt mit gespreizten Beinen auf einem Bett. Ein Porno läuft nebenbei mit – das eigene Tun und der alternde Körper bricht mit der harten Ästhetik der Pornographie. Der Mann wird gewickelt. Sein Partner legt die überdimensionierte Windel mit bunten Kindermotiven bedruckt, um seinen Po. Er zieht ihm einen blauen Plastikanzug über und gibt ihm die Flasche. Man hört wohlige Geräusche. Ein Fetisch. Der große Teddy wartet im Laufstall. Er heisst Babybear. „Cool, mein Freund“ sagt Kalle und setzt sich mit dem Bären in den vergitterten Laufstall.

Kalle und Horst waren beide einmal verheiratet („Frauen kommen damit nicht klar“) und haben sich nach ihrem Coming out bei einem fisting-date kennengelernt. Seitdem leben sie ihre Neigung aus und lassen sich mit großer Offenheit von Jan Soldat dabei beobachten. Er schafft es, mit seiner Kamera den beiden sehr nah zu kommen, ohne dass der intime Blick etwas unangenehm voyeuristisches hat. Eine langes Kennenlernen gab es im Vorfeld des Drehs nicht, dennoch werden Schamgrenzen nicht überschritten – weil sich vor und hinter der Kamera niemand schämt. Und vielleicht auch, weil die beiden Protagonisten ihre Geschichte so wunderbar berlinerisch-schnoddrig erzählen, ist der Blick in das Schlafzimmer der anderen nicht peinlich. Ein Highlight des Filmfestes.

62. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen; Foto: Ulrike Märkel

Philosophieren (Paul Spengemann)

Eine Gruppe von Freunden verbringt ein Wochenende auf dem Land. Ein junger Typ klettert im Baum, ein anderer pfeift ein Lied. Zwei Mädchen pusten einen rosa Schlauchballon auf, jagen sich mit Wasserpistolen. Die vier Jugendlichen kochen zusammen, brennen nachts ein Feuerwerk ab, lachen, küssen sich, schießen Selfies von sich – verkleidet mit einer Merkelmaske. Zwei Schlümpfe sitzen auf einem Globus, ein verwilderter Garten, Chipsreste auf dem Couchtisch verteilt. “Ich will nicht alt werden. Davor gruselt es mich“ sagt Marie.

Der Film schildert die unerträgliche Leichtigkeit des Jungseins und ist ein gelungenes Portrait der Generation Peter Pan. Dicht erzählt – getragen von wunderschön fotografierten Bildern – und mit der anmutigen Unbefangenheit eines frühsommerlichen Abends.

Whats new (Nina Könnemann)

Hinter einer Plakatwand verschwinden Männer. Die Jahreszeiten wechseln. Dem Plakat zur Lange Nacht der Museen folgt die Turnschuhwerbung House of Vans. Niemanden scheint das zu interessieren. Schnee fällt, Sonne scheint, Schnee schmilzt. Heino wirbt für Smartmobil. Männer treten hinter die Plakatwand und kommen wieder hinter ihr hervor.

Ein heiterer Film über den urbanen Alltag und die Vergänglichkeit des Konsums.

In between identities (Aleksandar Radan)

Eine Frau sitzt vor einem Ventilator und macht ein Selfie. Eine Frau im Bikini läuft durch die Stadt. Wiegender Schritt, kleine feste Brüste, wohlgeformter Po, perfekte Figur. Sie schießt ein Selfie. Um sie herum Männer beim Training. Perfekt bodies. Ein Poser lässt seine Muskeln spielen. Eine Frau mit einer Gesichtsmaske torkelt nach Hause. Einsam. Zu Hause erwarten sie die Klone ihres eigenen Körpers.

Verstörend ist die inszenierte schöne neue Welt von Radan. Wie in einem Videospiel bewegen sich die Figuren durch den virtuellen Raum. Dennoch bieten sie genug Projektionsfläche, um mit ihnen als menschlichen Wesen mit einer unersättlichen Sehnsucht nach Perfektion und Schönheit mitzufühlen. Prosaisch stellt Student Radan bei der Vorstellung seines Films fest: „Dafür habe ich auch einen Schein bekommen.“ Einen Preis hätte der Film ebenfalls verdient.

Bildnachweis: Copyright Ulrike Märkel

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